Predigt in Sorsele

 

Visitationspredigt im Jahre 1844

 

(12) Ich meine aber dies, da unter euch der eine sagt: Ich gehöre zu Paulus, der andere: Ich zu Apollos, der dritte: Ich zu Kephas, der vierte: Ich zu Cristus. (13) Wie? Ist Christus etwa zerteilt? Oder seid ihr auf den Namen des Paulus getauft? 1. Kor. 1,12-13

 

 

Paulus erfuhr durch Gerüchte und Erzählungen der reisenden Brüder, daß die Christen in Korinth sich in zahlreiche Parteien gespalten hatte, weil der eine sich für weiser hielt als der andere - weil einige Paulus hatten predigen hören und ihn deshalb gern hatten. Andere hörten Apollos predigen, wieder andere hatten Petrus gehört, und schließlich gab es auch einige, die dem Heiland selbst zugehört hatten.

Nun ging es mit den Christen in Korinth so, wie es auch oft in unserer Zeit zu gehen pflegt: der eine mag mehr diesen Prediger und der andere den anderen Prediger, weil sie in ihren Ausdrücken und in ihrer Sprechweise, in ihren Redensarten und Redewendungen, verschieden sind - und dies, obwohl sie alle auf demselben Grund arbeiten und über dasselbe Thema, nämlich über den gekreuzigten Christus, predigen. Daher spalteten sich die Korinther in Parteien und sagten untereinander: “Ich gehöre zu Paulus, ich zu Apollos, ich zu Kephas, ich zu Christus.” So geschieht es auch heute, wenn die Christen beginnen - vom Band des Geistes weggerissen - Worte zu wägen und Buchstaben zu reiben. Dann entstehen Parteien und Spaltungen in der Gemeinde. So geschieht es schon seit den Tagen Pauli - und so geschieht es heute immer noch.

Aber Paulus zeigt nun den Christen in Korinth, daß diese Spaltung in der Lehre sich nicht mit der Einheit des wahren Christentums in Übereinstimmung befindet. Darum wiederholt er ihre Worte und sagt schließlich: “Ist denn Paulus für euch gekreuzigt? Oder seid ihr auf den Namen des Paulus getauft?” Und nachdem er beschrieben hatte, wie er - ohne weltliche Weisheit in die Sache zu mischen - nur über den gekreuzigten Christus in der größten Demut und Einfalt predigte, sagte er weiter im 3. Vers des dritten Kapitels: “... weil ihr noch fleischlich seid. Denn wenn Eifersucht und Zank unter euch sind, seid ihr da nicht fleischlich und lebt nach Menschenweise?” Es war das größte Unheil, das der listige Seelenfeind der christlichen Gemeinde antun konnte, daß der fleischliche Geist der Entzweiung, der schon zur Zeit Pauli unter den Korinthern erschien, sich nach der Zeit der Apostel immer allgemeiner und allgemeiner unter jenen verbreitete, die doch alle glaubten, wahrhaft nach der Gnade in Christo zu suchen.

Schon während der großen Verfolgung, als das Blut der Christen unter dem Beil der Heiden floß, gab es ziemlich viele besondere Sekten und Parteien, von denen die eine glaubte, besser zu sein als die andere, obwohl sie alle für dieselbe Sache kämpften. Und nach den Verfolgungen entstanden noch mehr Parteien. Dann begannen besondere Parteien, sich gegenseitig als Ketzer zu verurteilen und einander zu verfolgen. Der eine sagte: Ich habe recht, der andere sagte: ich habe recht, und so weiter der dritte und vierte: Ich habe recht. Wer hat nun recht? Derjenige, nehme ich an, der sich nie in solche Wortstreitigkeiten eimischte, sondern einfach an Christus gemäß der Schrift festhielt. Es wurde oft schrecklich voller Haß und Zorn über einen einzigen Buchstaben gestritten, der im Glaubensbekenntnis geschrieben stand. Wer hatte Recht? Vielleicht jener, der am wenigsten die Worte und Buchstaben wägte.

Und es gibt heute immer noch unendlich viele Parteien - selbst in der evangelischen Gemeinde - die alle glauben, recht zu haben. Die Herrnhuter, die Quäker, die Methodisten, die Pietisten. Wer hat recht? Wenn der eine den anderen verurteilt, wer hat recht? Vielleicht derjenige, der am wenigsten ruft und mit seiner Glaubenslehre rühmt. Denn das richtige Christentum besteht nicht aus leeren Worten, sondern es besteht aus dem Geist und der Wahrheit. Es besteht aus dem inneren Menschen, der nach dem Willen Gottes im Band des Geistes ist. In diesem richtigen Christentum geht es nicht um einen Buchstaben mehr oder weniger oder um Fragen des äußeren Bekenntnisses. Es geht vielmehr um das innere Leben in der allgemeinen Versöhnungsgnade und durch die Versöhnungsgnade in Christo.

 Du bist vielleicht ein Jude, ein Grieche, Lutheraner, Katholik, Reformierter, Pietist, Herrnhuter, Neu- oder Altleser - oder was du auch immer bist. Glaubst du, daß der tote Buchstabenglaube, den deine [Vor]väter vor dir buchstabiert haben und den du nachbuchstabierst, deine Seele deshalb vor der Verdammnis erlöst, weil du vermutest, das rechte buchstäbliche Bekenntnis zu haben, ohne daß du über den richtigen Geist und das richtige Leben im inneren verborgenen Menschen des Herzens verfügst, der sich in der zwingenden Gnade durch das Band des Glaubens in der Liebe meldet. Oder bist du der Meinung, daß der Geist Gottes sich hinter die Barren und Schlösser des toten Buchstabens fesseln und binden läßt? Nein danke, mein Freund! Das Christentum läßt sich nicht an dieses oder jenes Bekenntnis - wie rechtgläubig es auch sei - binden, da es trotz allem Menschenwerk ist. Das wahre Christentum vielmehr ist selbst frei und macht frei, so wie der Geist - der das wahre Christentum aufweckt - frei ist. Es befreit vom Zwang des Buchstabens. Denn ihr seid zur Freiheit berufen - nicht zur fleischlichen Freiheit, die die Kinder der Welt preisen und wonach sie streben (vgl. Gal. 5,13) - sondern zur Freiheit des Geistes, die selbst das Leben im Christentum ist - denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig (2 Kor. 3,6).

Deshalb war es nicht ungewöhnlich, daß der Apostel die Christen von Korinth tadeln mußte, damit sie solche unnötigen Wortstreitigkeiten vermieden, die nichts Gutes verheißen konnten, sondern im Gegenteil selbst den Geist und das Leben im Christentum verdarben. Darum sagte er “...seid ihr da nicht fleischlich, Weil der eine sagt: Ich gehöre zu Paulus, ich zu Apollos, ich zu Kephas und ich zu Christus. Ist Christus etwa zerteilt? Ist denn Paulus für euch gekreuzigt?”

Und auch heute kann es nötig sein, dieselben Worte zu wiederholen und auszulegen, weil das Christentum nicht nur durch viele Parteien und Sekten vermischt und zertreten wird, die unter dem Zwang des Buchstabens wie ein Rind gebunden sind und sagen: Ich bin Calivinist, ich bin Lutheraner, ich bin Pietist, ich bin Quäker, ich bin Herrnhuter, ich bin Neuleser, ich bin Altleser. Meinst du, daß der Geist Gottes sich an einen Buchstaben oder an ein äußeres Bekenntnis binden läßt? Glaubst du, daß ein richtiger Christ sich an einen toten Buchstaben binden läßt - so wie ein Hund, der an den Mauerpfahl gebunden wird?

Glaubst du, daß Gott nicht einen Türken und einen Heiden erwecken kann, genau so gut wie Er einen Lutheraner oder eine Quäker aus seinem furchtbaren Sündenschlaf aufwecken kann, der dann ernsthaft nach der Gnade sucht? Ich sage euch, daß Gott vermag, dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken (Matth. 3,9). So sagte Johannes [der Täufer] zu den Juden, die auch glaubten, im Zwang des Gesetzes und des Buchstabens recht zu haben.

Wenn Paulus heute vom klaren Morgen des Christentums auferstehen würde; oder wenn Johannes der Täufer heute von der ersten Flamme des Christentums auferstehen würde, oder wenn Luther den Kopf aus der bald verlöschten Abenddämmerung des Christentums aufheben würde: könnt ihr erraten, was diese Männer zu sagen hätten, wenn sie die ganze Christenheit in so viele verschiedenen Sekten und Parteien aufgespaltet sehen würden, die alle und ein jeder glauben, die richtige Lehre zu verkündigen? Sie würden sicherlich mehr als einmal klagen und würden über die furchtbare Blindheit Tränen vergießen, und über die erschütternde Finsternis, mit der der Seelenfeind den ganzen blinden Haufen der Welt umringt und betrogen hat, der wie eine Herde Säue wandert, die die Wölfe in den Abgrund treiben - also in den Netzen des Satans unter dem einsernen Joch des toten Buchstabens gefangen und eingewickelt halten. Ich will nicht alles sagen, was ich von dieser furchtbaren Knechtschaft denke, worunter der listige Feind die Gewissen der armen Leute unter den Zwang des Buchstabens gefesselt hält. Daher kommt die ewige Knechtschaft.

Eben in dieser Knechtschaft Satans verkümmert mancher, der ein empfindliches Gewissen hat, weil er nach seiner ersten Erweckung beginnt, Worte zu wägen und Buchstaben zu reiben. Dann entstehen Parteien. Dann entstehen Sekten und Entzweiungen in der Lehre; dann wird der Kern der Christentums zerstört; das Leben und der Geist verlöschen; die Liebe zu Gott wird zum Mantel eines Heuchlers. Der geistliche Hochmut [ist] ein unerträglicher Geruch und Gestank, der eine teuer erlöste Seele mit dem Gift der Scheinheiligkeit vergiftet.

Wenn man über die Gnadenordnung springt und kopfüber von der fleischlichen Gottlosigkeit zur geistlichen Selbstsicherheit herunterfällt, siehe, dann lacht der Teufel - wohl, weil er das Spiel gewonnen hat. Dann ist der unreine Geist in das Herz des Heuchlers mit sieben anderen Geistern gekommen, die siebenmal schlimmer sind als er selbst. Dann können er und seine schwarzen Kameraden frei regieren und wie reißende Wölfe im Schafstall wüten und die schutzlosen Schafe zerreißen - mit dem Häutchen eines Heuchlers, das wächst wie die Schuppen eines Drachen auf den listigen Augenlidern, zeigt er seine blutdürstigen Zähne jedem, der nicht freiwillig in seinen blutroten Rachen kriechen will.

Liebe Kinder! Hütet euch vor diesen Wölfen in Schafskleidern, die eure Seelen lebendig schlucken wollen. Sie kommen schleichend mit schönen Worten - und wollen euch von der Einfalt in Christus weglocken. Sie bringen als Vorwand ein inneres geistliches Licht, das es in der Schrift nicht gibt. Wenn es aber darum geht, seinen Glauben und seine Liebe zu Gott und zu den Nächsten dadurch zu zeigen, indem man einige kleine irdische Vorteile opfert - dann ziehen sie den Schwanz zwischen ihren Beinen ein und schleichen davon wie sich schämende Hunde. Seid vorsichtig, sie sehen wie geschwollene Frösche aus. Sie sind vom geistlichen Hochmut geschwollen. Sie kriechen über die Gnadenordnung - und wollen auch andere betrügen, dies zu tun. Aber an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen; denn der größte Heuchler wird schließlich zum größten Schelm.

Diese Warnung halte ich für sehr wichtig in dieser Gemeinde, wo ein Haufen in die schreckliche Finsternis der fleischlichen Gottlosigkeit gesunken ist und der andere Haufen - vom Zwang des Buchstabens bedrückt - mit einem schwer zu öffnenden Knoten auf seinem Gewissen belastet ist. Kein Mensch kann ihn aufmachen, wenn nicht Gott, der so gnadenvoll zu allen wohlmeinenden aber irrefahrenden Seelen ist, diesen Knoten löst und diese empfindlichen Gewissen aus dem Zwang des Buchstabens befreit und sie das Leben und den Kern der geistlichen Freiheit schmecken läßt. Denn hier gibt es ja viele, die es ganz ernst meinen, wenn sie die Schrift untersuchen, die Gnade suchen und in der verborgenen Stille beten - mit geheimem Seufzen und Gebeten im Nachtlager - die aber in der Mitte des Wolfshaufens, der ringsum brüllt und heult, es einer wahrhaftig suchenden Seele schwer machen, den mittleren Weg zu finden - die enge Pforte, die zum Ziel führt. Denn sie heulen alle aus vollem  Halse, der eine schlimmer als der andere. Da ist ein großer Schankwirt, da ein großer Säufer, da ein Geizhals, da ein Ehebrecher, da ein Tanzmeister, da ein Blutsauger und Bluthund. Wenn alle diese bunten Tiere, die aus dem Meer und dem Abgrund heraufsteigen und aneinander vorbeilaufen - einer mit seiner Schmeichelei, der andere mit seinem Krächzen, der dritte mit seinem Heulen und Bellen, der vierte mit seinen Hexentönen und Flüsterworten - um die gnadesuchende und um die enge Pforte des Himmels ringende Seele wegzulocken, dann kommt es einem wie ein Heulen und großer Tumult vor, der aus dem Abgrund aufsteigt, und es wird ein großes Wunder Gottes sein, wenn eine einsame und wahrhaft Gnade suchende Seele nicht irregeht und den schmalen Weg nicht verliert, der schließlich zur engen Pforte des Himmels führt.

Liebe Seele! Du, der du wahrhaftig Gnade suchst und dabei bist, der engen Pforte des Himmel zuzustreben: Weiche nicht ab vom Weg! Laß dich nicht durch die schönen Flüsterworte von diesem schmalen Steg weg verführen. Horche nicht auf die Worte der Flüsterer, die das klarste Wort Gottes für ihre eigene Verdammnis verfälschen und verdrehen. Halte vielmehr fest am Wort. Halte fest am Anker und mache dich nicht los vom Felsen der Seligkeit - Christus. Laß nicht den Stern fort aus deinem Gesichtskreis, der nach Bethlehem führt - in das gelobte Land. Denn wenn du ihn aus deinem Gesichtskreis verlierst, so bist du auf ewig verdammt. Dieser Stern ist das geoffenbarte Wort Gottes. Und wenn du Christus finden willst, folge dem Stern, anders wirst du Ihn nicht finden. Dann bist du dein eigener Priester und dein eigener König - aber ich sage nicht mehr. Derjenige, der ein wenig Erfahrung von den Wegen der Gnade hat, der versteht mich wohl - jener, der [die Erfahrung] nicht hat, der versteht nichts. Denn er ist blind und vom Satan verblendet.

Gebe Gott, daß die wenigen, einsamen und wahrhaftig Gnade suchenden Seelen, die in dieser Gemeinde wandern wie Schafe ohne Hirten, in ihrer Einsamkeit und in ihrer geistlichen Armut fleißig, ernsthaft und ehrlich Gnade suchen durch den Glauben und die Liebe zum Herrn Jesus Christus - gebe Gott ihnen seine Gnade und die ewige Seligkeit wegen Jesu Christi.

 

Amen.