Am dritten Bettag

 

Morgenpredigt im Jahre 1859

 

Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens sehen. Joh. 8,12

 

 

Anhand des gelesenen Textes wollen wir zu dieser heiligen Stunde durch die Gnade Gottes die geistliche Finsternis und das geistliche Licht untersuchen.

Mit Finsternis meint man in der Heiligen Schrift nicht nur die Unwissenheit über das Gotteswort, sondern auch den Mangel an Erfahrung mit der Gnadenordnung und dazu ein falsches Vertrauen in die eigenen Werke und Taten, große Unwissenheit über die Seligkeit, falsche Vorstellungen von der Person Gottes und Seinen hohen Eigenschaften, falsche Lehre von den Fähigkeiten des Menschen und von den Beziehungen zwischen ihnen. Mit der Finsternis meint man aber auch den Unglauben, die Verachtung des Gottesworts sowie der Sakramente, und zum Schluß meint man mit der Finsternis ein gottloses Leben, wie es der Apostel Paulus zeigt, wenn er die Werke der Finsternis aufzählt, unter denen er Hurerei, Liederlichkeit, Unzucht, Saufen und Dieberei nennt, die als heidnische Laster zwischen den Menschen immer noch üblich sind. Solches Leben nennt man in der Bibel Finsternis.

Aber mit dem Licht meint man nicht nur richtiges Wissen über Gott, richtiges Wissen über die Beschaffenheit des Menschen, sondern auch Erfahrung mit der Gnadenordnung. So meint man mit dem Licht nicht nur das Wissen über den christlichen Glauben, sondern auch das Christentum im Herzen des Menschen, wozu allerdings eine fühlbare und bemerkbare Veränderung des Herzens und des Sinnes gehört, die in der Bibel Bekehrung und neue Geburt genannt werden. Mit dem Licht meint man außerdem ein heiliges Leben und allerlei christliche Güte - aber vor allem den lebendigen Glauben, der im Verabscheuen der Sünde und in der Freude, die nur begnadigte Seelen fühlen können, zum Ausdruck kommt.

Der Heiland verspricht im Text des Tages, daß jener, der ihm nachfolgt, nicht in der Finsternis wandeln wird. Aber um ihm zu folgen, wird eine unbedingt wahre Bekehrung, Besserung, eine neue Geburt und ein lebendiger Glaube verlangt. Jener, der zum richtigen Licht kommen will, muß zuerst ein richtiger Christ werden, und dazu braucht man zuerst ein vom Geist Gottes bewirktes Licht durch sein Wort, weil jemand, der nicht den Heiligen Geist erhielt, das Gotteswort nicht richtig versteht. Und derjenige, der das Gotteswort nicht richtig versteht, verirrt sich und findet sich in der geistlichen Finsternis wieder. Von der großen Schar abgesehen, die das Gotteswort und die Sakramente verachtet, gibt es heutzutage viele, die vermuten, das Gotteswort richtig zu verstehen. Aber es handelt sich dann darum, ob man das Gotteswort richtig versteht. Wenn ein Bibelausleger irgendeinen Satz der Bibel in dieser und ein anderer auf jene Weise erklärt, wenn hochausgebildete Bibelausleger ein und dieselbe Stelle in der Bibel verschieden verstehen, wie kann da ein einfacher Mensch das Gotteswort richtig begreifen? Nach unserer lutherischen Lehre muß das Gotteswort die einzige Richtschnur in der Lehre so wie im Leben sein. Hierzu taugt das Licht der Vernunft nicht. Hier taugt die Weisheit der Welt nicht. Derjenige, der glaubt, daß der Mensch ohne Bibel und Gotteswort selig werden kann, wenn er nur der Leitung seiner Vernunft nachfolgt, wandelt in der Finsternis.

Heute behauptet mancher Hochgelehrte, daß der Mensch es nicht nötig habe, das Versöhnungswerk oder die Lehre von der Rechtfertigung nur durch den Glauben ohne Taten zu kennen. Weil nun die Klugen dieser Welt, die ausgiebig den Zustand nach dem Tode des Menschen untersuchten und darüber nachdachten, keinen anderen Trost geben als die falsche Lehre, daß der Mensch, um selig zu werden, das Versöhnungswerk nicht zu kennen, sondern nur der Vernunft zu folgen brauche - wie kann da ein einfacher Mensch wissen, wie und in welcher Weise er selig wird, da er in seiner Sorglosigkeit das Buch unter den Stuhl wirft, nach dem er konfirmiert wurde, ohne daß er sich danach um Gott oder den Feind kümmerte; ohne daß er sich darum kümmert, wie er lebt. Er lebt vielmehr nur weiter in Saus und Braus, in der Sauferei, in der Unzucht, im Fluchen, im Mißbrauch des Namens Gottes, im Stolz, im Schmücken, in der Eitelkeit, in allerlei weltlichen Vergnügungen und Zeitvertreib, im Überfluß, im Haß, im Zorn, im Gezänk, in der Schlägerei, in der Gier, im Diebstahl und im Verachten des Gottesworts und der Sakramente. Solch ein Leben sehen wir jeden Tag vor unseren Augen - als ob Gott blind wäre, daß er nichts sieht, oder taub, daß er nichts hört, oder daß er ein so barmherziger Gott wäre, der sich darum nicht kümmert, wie der Mensch lebt oder was er für einen Glauben hat - sondern ihn so leben läßt, wie er nach seinen üblen Begierden und nach seinem Willen leben will, um ihn dann nach dem Tode in den Himmel zu nehmen.

Ja, gerade so ein Leben wird in der Bibel geistliche Finsternis und Blindheit genannt, und diese Finsternis ist jetzt so schrecklich groß, daß jene, die in der Finsternis wandeln, sie nicht begreifen können. Wenn vom geistlichen Licht irgendwo ein Funke erscheint, so sagt man von jedem, bei dem die Zeichen des geistlichen Lichts vorkommen, daß er ein Schwärmer, ein Ketzer oder ein sonst Verirrter sei. Dann kommt die rückhaltlose Herde der Welt, um zu schauen und zu gaffen. Als die Jünger vom Heiligen Geist an Pfingsten erfüllt wurden, war eine große Menge Menschen erstaunt, aber einige höhnten und sagten: “Sie sind voll süßen Weines”. Die Welt nahm die ersten Wirkungen des Christentums mit Hohn entgegen, aber es dauerte nicht lange, daß die große Herde von Bitterkeit und geistlichem Haß auf die Christen erfüllt wurde. Und überall, wo das lebendige Christentum erschien, entflammte auch der geistliche Haß. Die Welt hat immer alle richtigen Christen gehaßt, verachtet und verfolgt.

Und dies war nun die geistliche Finsternis, welche die geistliche Sonne - nämlich Gottes Sohn - gekommen war zu beseitigen. Aber die Strahlen der Sonne erreichen nicht die Tiefe, wo die Geister der Finsternis wohnen; und die Gestalten, die nie das Licht gesehen haben, werden starblind, wenn das Licht auf sie fällt. Die Geister der Finsternis hassen das Licht, weil ihre Werke übel sind. Alle natürlichen Menschen glauben, daß die geistliche Finsternis, in der sie geboren und aufgewachsen sind, das richtige Licht darstellt. Und deshalb sagen alle - nämlich die Weisen dieser Welt - die für sich selber den Weg abgesteckt haben, auf dem sie in die Ewigkeit wandeln: “Wir brauchen kein besseres Licht als das, was wir durch die Vernunft erhalten haben. Wir sehen im Licht der Vernunft den Weg, auf dem der Mensch wandeln soll, um seinen Zweck zu erfüllen. Wir brauchen keine anderen Gesetze zu wissen, wir brauchen das Versöhnungswerk nicht zu kennen. Wir können mit der Vernunft das richige Licht bekommen, und im Licht der Vernunft sehen wir den Weg zum Leben. Wenn wir der Fügung der Vernunft folgen, so können wir den Zweck unseres Daseins auf der Erde erfüllen.” Andere sagen: “Wenn ich alles richtig tue, kann Gott mich nicht verurteilen.” Einige sagen: “Wenn der Mensch alles macht, was seiner Besserung dient, so ist Gott verantwortlich für seine Seele, wenn Er den Menschen verurteilt.”  Manche gehen in ihrer Selbstgerechtigkeit noch weiter und sagen: “Ich habe in der Welt mehr Gutes als Böses getan und hoffe, daß Gott mich in der anderen Welt