Am dritten Bettag

 

Morgenpredigt im Jahre 1854

 

Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung.  1. Thess. 4,3

 

 

Anhand des gelesenen Textes wollen wir jetzt die Heiligung der Christen untersuchen. Aber wir müssen zuerst darauf hinweisen, daß der Apostel Paulus diese Worte von der Heiligung an wahre Christen geschrieben hat, und demzufolge weder an Namenschristen noch Heiden. Wenn irgendjemand behaupten will, daß auch unbekehrte Leute der Heiligung bedürfen, so haben wir nichts dagegen, wenn auch sie die Heiligung entgegennehmen; d.h. wenn sie ihr gottloses Leben verbessern und beginnen, christlich und anständig zu leben. Aber sie wollen es keineswegs tun, weil sie zu den neunundneunzig gehören, die der Buße nicht bedürfen (Lk. 15,7). Einige sagen zwar, daß der Mensch Buße tun muß, aber sie wollen doch keine wahre Buße tun. Sie wollen nicht auf ihre alten sündigen Gewohnheiten verzichten, weil sie sie als erlaubt ansehen - wie zum Beispiel Saufen, Unzucht, Fluchen und Stolz. Solche Leute können keine Rede über die Heiligung dulden, weil sie ihrer Meinung nach schon durch die Taufe und durch die Sakramente geheiligt worden sind. Und wenn sie irgendwann das Haus des Herrn besuchen, tun sie es mehr aus Gewohnheit, und nicht deshalb, weil sie des Lichtes und des Trostes bedürfen.

Warum sollte jemand Buße tun, der in der Gottesfurcht von Jugend auf gelebt hat? Ein guter Mensch mag es wohl nicht nötig haben, Buße zu tun; nur Mörder, Diebe und Schwindler müssen ihr Leben verbessern. Und weil es hier seit langem solche Leute nicht mehr gibt, kommt es ganz unnütz vor, von der Buße jener zu reden, die der Buße nicht bedürfen. Hier gibt es ja keinen einzigen, der gottlos gelebt hätte. Wenn jemand einen Fehltritt begangen hatte, ist er schon seit langem vergeben. Ist es denn nicht wahr, daß die meisten so ehrlich, tugendhaft und fromm gelebt haben, daß sie keiner Buße bedürfen? Alle sind getaufte, ehrliche und anständige Mitglieder der Gemeinde Gottes. Alle erhalten Unterricht in der christlichen Lehre; alle haben einen Gott und einen Glauben; dies ist ja sicher für die Seligkeit genug. Es hat also niemand nötig, eine andere Buße zu tun, als die er schon getan hat. Niemand braucht zu grübeln wie Luther, niemand hat es nötig, an seiner Seligkeit zu zweifeln wie Luther. Niemand hält es für notwendig, einem anderen zu sagen: “Kenne den Herrn”; denn alle sind über Gott unterrichtet und alle sind vermutlich bereit, selig zu sterben.

Wir müssen jedoch darüber nachdenken, wie bereit wir sind, die Welt zu verlassen. Die Furcht packt viele, wenn die Todesstunde da ist. Mancher, der wie ein Türke oder Heide gelebt hat, fühlt in der Todesstunde, daß er nicht bereit ist, vor das Gericht zu treten. Dieser Mensch, der am meisten das Christentum verachtete, wird auf dem Totenbett gottesfürchtig. Aber weil das Gewissen ihn anklagt und verdammt, fühlt er keinen Frieden in der Seele. Er muß sein Urteil selbst sprechen, und niemand kann dieses Urteil ändern. Woran liegt es, daß die meisten Leute in der Sicherheit leben, wenn sie gesund sind - aber wenn der Tod kommt, finden sie keinen Trost und haben keinerlei Glaube auf einen gnädigen und barmherzigen Gott, sie besitzen keine Zuversicht auf das ewige Leben. Denke nun, du elender Sündenkecht, an die Zeit, wenn du dahinscheiden mußt. Denke an die Seligkeit, wenn du noch in der Zeit der Gnade bist; auch wenn du keiner Erlösung bedürftest, wenn du gesund und im guten Befinden bist, kannst du doch die Buße brauchen, wenn der Tod kommt - und dann ist es schon zu spät.

Wir müssen nun zu jenen sprechen, die keiner Buße bedürfen, denn die Wenigen, die der Buße bedürfen, werden für Schwärmer und Scheinheilige gehalten. Unter diesen neunundneunzig, die keiner Buße bedürfen, befindet sich eine Gruppe von Menschen, die sagen, daß sie den Glauben haben, und die doch in ihren Begierden leben. Eine andere Gruppe kümmert sich weder um Gott noch um den Teufel. Dann gibt es da noch Leute, die sagen: “Natürlich sind wir große Sünder, und wir haben nichts, weshalb wir uns vor Gott rühmen können.” Wenn es aber darum geht, welche Sünden so ein Sündenbekenner auf dem Gewissen hat, so hat er keine Sünde, die er bekennen müßte. Er hat nichts Unrechtes getan, das er sühnen sollte. Mit wenigen Worten: das Gewissen eines solchen Sünders ist rein wie Gold. Denn obwohl er ein großer Sünder ist, so hat er doch keine Sünde auf dem Gewissen, die ihn verdammt. So ein Mundsünder kann nicht etwas als Sünde ansehen, was ein Erweckter als große Sünde betrachtet - wie z.B. mäßiges Trinken, Pracht, Stolz, Lügen [zum eigenen Nutzen] usw. [] Wie kann der Namenschrist dann Buße tun, wenn er nichts anderes als Sünde bekennen will, als das, was er selbst für Sünde hält - wie z.B. den Mord und den Meineid? Fluchen, Branntweinhandel, mäßiges Trinken, Stolz, Pracht, geringen Diebstahl und Unzucht betrachtet er nicht als Sünde. Wie kann er dann Buße tun, wenn er keine Sünden auf dem Gewissen hat? So ein Mensch muß vermutlich in der Ewigkeit Buße tun.

Wenn wir heutzutage das Leben der Leute und der Welt betrachten, so können wir nicht umhin, uns zu wundern und darüber zu staunen, daß der Seelenfeind eine so große Macht über die Menschen bekommen hat - daß er mit ihnen so verfahren kann, wie er will. Er kann sie dazu antreiben, sich zu schlagen und einander wie Tiere zu schlachten. Er kann sie dazu antreiben, Christen zu hassen und zu verfolgen. Er bringt sie dazu, zu trinken, zu fluchen und Unzucht zu treiben. Kurz gesagt: der Teufel hat eine so große Macht über das Menschengeschlecht erhalten, daß er die Leute dazu bringt, wie Tiere zu leben. Wurde der Mensch dazu geschaffen? Wurde er geschaffen, um zu saufen, zu fluchen und sich zu schlagen? Wurde er geschaffen, um die Ehe zu brechen und zu stehlen? Wurde er geschaffen, um wie ein Tier zu leben?

Wenn die Großen und Mächtigen das Blut in Strömen fließen lassen, kann man mit Recht fragen, ob der Mensch zum Brudermörder geschaffen wurde. Nein, aber der Teufel machte aus ihm einen Brudermörder. Der erste Mensch, der auf der Erde geboren wurde, wurde der Mörder seines Bruders - und so hat der schlachtende und tötende Geist von den Zeiten Kains an gewirkt. Nicht genug damit, daß die Leute um Brotstücke, Erd- und Ackerflecken streiten - auch wegen der Ehre und des Ruhms wird Menschenblut in Strömen vergossen. Und genau so, wie Kain seinen Bruder Abel totschlug, weil das Opfer Abels vor Gott gefiel, so hat immer jener, der nach dem Fleisch gezeugt ist, denjenigen gehaßt, der nach dem Geist gezeugt ist (vgl. Gal. 4,29). Deshalb hat man die Propheten, die Apostel und alle richtigen Christen auf Grund ihres Glaubens zum Heiland und zu Gott gehaßt und verfolgt. Da hat der Teufel seine fürchterliche Macht über die Kinder des Unglaubens gezeigt, und er ist immer noch ebenso kräftig wie voher. Immer noch zeigt der blutrote Drache jedem seine scharfen Zähne, der nicht niederfällt, um ihn anzubeten. Er zeigt die Zähne jedem, der den Mut hat, ihm zu widerstehen. In so einem elenden Zustand befindet sich das Menschengeschlecht. Und es wird eine schrecklich Verwirrung, ein schreckliches Blutvergießen, Armut und Hungersnot eintreten, wenn es bald keine Buße und Bekehrung in der Welt gibt. Es wird die Zeit kommen, die in der Offenbarung des Johannes geschildert wird. Da sah der große Prophet, wie reife Trauben im Kelter des Zornes Gottes getreten wurden, so daß “das Blut ging von der Kelter bis an die Zäume der Pferde” (Offb. 14,20).

So sieht nun die Welt aus, wenn man große Ereignisse betrachtet. Wenn man die Welt im kleineren Rahmen ansieht - z.B. in einer Gemeinde von einigen Tausenden von Menschen - so sieht es da letzten Endes kaum besser aus. Armut und Elend herrschen überall, die Sauferei und Prügeleien sind nicht selten. Es sieht aus, als ob der Hochmut die Jugendlichen beherrscht und Gier und die Sorge des Bauches bei den Älteren. Man strebt und ringt, um in der Welt zurechtzukommen, aber für das künftige Leben tut man kaum etwas oder gar nichts. Der natürliche Mensch sorgt sich in großem Kummer um das Auskommen im Leben - aber darum, was nach dem Tod kommt,  kümmern sie sich nicht. Wie es auch um die Seele beschaffen sei, der Körper muß leben dürfen. Und wenn alles am besten ist, dann kommt der Tod und schneidet den Lebensfaden ab.

Ist der Mensch für dieses irdische Leben geschaffen? Ist er nur dazu da, um sich in der Welt anzustrengen und hier eine kurze Zeit zu leben - ein elendes und unruhiges Leben? Nein, er ist nicht allein für dieses Leben geschaffen, aber weil dieser Geist eine so große Macht über seine Seele und seinen Körper bekommen hat, kann der natürliche Mensch nichts anderes als Erde graben mit Gedanken, Wörtern und Werken. Er kann nicht seine Gedanken zu etwas Höherem erheben, er kann nicht sein Herz auf Gott ausrichten. Er muß über Pferde, Kühe, Kälber und Schweine reden und an sie denken. Aber wo sein Schatz ist, da ist auch sein Herz (vgl. Matth. 6,21). Wann hört man einen natürlichen Menschen über etwas anderes reden als über die Welt und über die Dinge, die dort sind? Wann hört man ihn von der Heiligung sprechen, die Paulus im heutigen Text verlangt? Wenn der natürliche Mensch anfinge, von der Heiligung zu sprechen, so müßte er auch von der Buße, vom Glauben, von der Liebe und von anderen geistlichen Dingen reden.

Seht nun, in welchem Zustand so ein Mensch ist, der durch die List des Teufels zum Elendsten aller Geschaffenen auf der Erde geworden ist? Die Tiere seufzen in ihre Bedrängnis, wenn sie sich legen. Sie seufzen wegen der tyrannischen Menschen und warten auf das herrliche Erscheinen der Kinder Gottes. Aber ein natürlicher Mensch seufzt nicht wegen seines elenden Zustandes - weder wenn er sich legt noch wenn er aufsteht. Und wenn irgendjemand über sein Elend und seinen Jammer seufzt, kommt dies dem Haufen der Welt [so] ärgerlich vor, daß sie anfangen, Gott zu loben, daß sie nicht so verachtet sind wie jener Zöllner.

Wie lange wollt ihr in der Gottlosigkeit leben, ohne Buße zu tun? Wie lange wollt ihr den Reichtum der Güte und der Langmut Gottes verachten, der euch zur Buße ruft? Gibt es hier eine einzige christliche Seele, die wegen ihrer Trägheit und wegen der Mangelhaftigkeit ihres geistlichen Lebens seufzt? Gibt es hier irgend jemanden, der ringt und bestrebt ist, um etwas Höheres und Beständigeres zu erhalten als dieses irdische Leben? Gibt es hier irgend jemanden, der seufzt und auf die herrliche Erscheinung der Kinder Gottes harrt? Wenn ja, so mag er wissen, daß es keine leichte Sache ist, selig zu werden. Der Heiland hat selbst gesagt, daß der Mensch durch große Mühsal in das Leben hineingehen soll. Er muß in seiner Brust ein innerliches Kreuz tragen, das aus allerlei Versuchungen und Anfällen des Feindes, Unglauben, Verzweiflung, Sorge, Trübsal, Pein und auch aus dem kontinuierlichen Streit und Kampf gegen den Teufel besteht. Aber außer diesem innerlichen Kreuz muß er ein äußerliches, sichtbares Kreuz tragen, das aus dem Haß und Hohn des Haufens der Welt besteht. Der Haufen der Welt hat im Herzen einen geistlichen Haß gegen alles lebendige Christentum. Ihm ist nicht genug damit, daß er allerlei Übles gegen die Kreuzträger redet, sie verhöhnt und sie haßt. Der Haufen der Welt will sie auch an der Haut packen, so wie der Teufel zum Herrn sagte: “Haut für Haut!” So will der Haß der Welt den Körper töten, weil er nicht die Seele beschädigen kann.

Der Christ muß sich bereit machen, all dies von der Welt entgegenzunehmen, denn die Christen sind immer in der Welt verachtet und gehaßt worden. Und je näher der Abend für die Welt kommt, desto zorniger wird der Haufen der Welt, wenn er die wenigen wahren Christen verfolgt, die da sind. Obwohl das Blut der Christen gegen den Brudermörder immer nach Rache vom Himmel schreit - vom Blut des gerechten Abels bis zum Blut des Zacharias, des Sohnes des Barachias - so sollen doch die wenigen Seelen, die jetzt im Kerker und im Exil wegen ihres Glaubens und wegen ihres christlichen Glaubens verschmachten, durch die Hilfe Gottes bessere Zeiten sehen. Wir hoffen, daß, wenn der Teufel genug gewütet hat, wenn er seinen Blutdurst durch Kriege, Pest und Hungersnot gelöscht hat, er mit Fesseln gebunden und vom Himmel auf die Erde geworfen wird - von der geistlichen zur irdischen Verwaltung, wie auch die Zeichen der Zeit bezeugen, daß der Teufel in die irdische Verwaltung übergegangen ist. Und wenn er auf die Erde herabgeworfen worden ist, so ergreift ihn großer Zorn, weil er weiß, daß er wenig Zeit hat (vgl. Off. 12,12). Alle Seelen im Gnadenhimmel werden somit von der Verfolgung befreit. Sie haben mit den eigenen Augen gesehen, daß der böse Geist in die Sauherde fährt, wenn er den Menschen verläßt (Matth. 8,32). Wenn er von der geistlichen Verwaltung hinausgeworfen wird, geht er in die irdische Verwaltung und da wütet er schrecklich. Wenn der unruhige Zeitgeist die Sinne der Könige und Kaiser aufreizte, so konnten Luther und die Christen ruhig bleiben. Die Mächtigen haben keine Zeit, an die kleine Herde zu denken, die zum Gekreuzigten betet, weil [die Mächtigen] miteinander im Krieg stehen.

Gibt es hier irgend jemand, der auf den Trost Israels wartet? Gibt es hier irgend jemand, der einen traurigen und zerbrochenen Geist hat? Wenn ja, so wende er sich zum Herrn mit dem Seufzen und dem Gebet seines Herzens, damit der bald als sein treuer Diener von diesem irdischen Elend befreit und zur ewigen Freude gelangt, wo der große Kreuzträger und dorngekrönte König seine Tränen trocknet und ihm die Krone des Lebens schenkt.

 

Amen.