Am dritten Bettag
Morgenpredigt im
Jahre 1860
Und es wird
geschehen zu der Zeit, da das Reis aus der Wurzel Isais dasteht als Zeichen für
die Völker. Nach ihm werden die Heiden fragen, und die Stätte, da er wohnt,
wird herrlich sein. Jesaja 11,10
Im elften Kapitel
seines Buches erzählt der Prophet Jesaja vom Kommen des Heilands und zeigt, was
für einen Eindruck die Lehre, das Leiden und der Tod des Heilands auf die
Herzen der Leute machen wird. Er sagt unter anderem, daß die Wölfe zahm wie
Lämmer werden, und daß ein Säugling am Loch der Otter spielen kann (vgl. Jes.
11, 6.8), d.h., daß die grausamsten und zügellosesten Menschen mit den Christen
so umgehen, weil die Lehre des Heilands auf die Herzen der geistlichen Wölfe
einen solchen Eindruck gemacht haben, daß sie zahm wie Lämmer werden. Und zu
der Zeit suchen die Heiden nach der Wurzel Isais, das heißt, sie suchen den
Heiland. Unter der Leitung unseres heiligen Textes wollen wir die Frage
beantworten, wann die Heiden ganz im Ernst den Heiland suchen werden.
Es passiert
selten in unseren Tagen, daß irgendein Heide ganz im Ernst den Heiland sucht.
Die Heiden verschieben gewöhnlich dieses Suchen bis auf weiteres, bis es zu
spät ist. Solange sie gesund sind, kümmern sie sich gewöhnlich nicht um den
Heiland. Wenn aber der Tod sich ihnen plötzlich nähert, suchen einige - doch
nicht alle - nach ihm. Aber dann kommt auch der Teufel und sagt: “Es ist jetzt
zu spät, den Heiland zu suchen; da du wie ein Heide dein ganzes Leben gelebt
hast, so suchst du jetzt auf deinem Totenbett den Heiland. Es hilft dir aber
nicht mehr - wie du gelebt hast, so wirst du auch sterben.” Es ist zu allen
Zeiten geschehen, daß die Heiden, die den Heiland in der Gnadenzeit
verachteten, begannen, ihn in der Todesstunde zu suchen. Aber die meisten haben
dann auch erfahren, daß ihr Suchen zu spät geschah. Einige Heiden sind von
ihrer Sache so überzeugt, daß sie auch im Tode den Heiland verachten und sagen:
“Ich habe jedem richtig getan und befürchte keine Folgen. Wenn Gott mich
verurteilt, so ist er ein ungerechter Gott.” Und andere sagen: “Wenn der Mensch
alles macht, was er zu seiner Besserung tun kann, so trägt Gott die
Verantwortung für seine Seele, wenn er ihn verurteilt.” Solche großen und
stolzen Worte hört man überall in der Welt. Aber jener, der so spricht, ist
kein Schwärmer, sondern ein Freidenker. Wir finden solche Freidenker heutzutage
an manchen Orten in der Welt. Es ist aber eine ewige Wahrheit, daß Gott
verantwortlich für die Seele des Menschen ist, wenn der in eine Gemütsverfassung
gekommen ist, in der er fühlt, daß es ihm unmöglich ist, selbst für seine
Werke einzustehen. Aber es ist nicht
leicht, in solch eine Verfassung zu gelangen, denn der Gedanke der eigenen
Verantwortung ist tief im Menschensinn verwurzelt. So gibt es nur ganz wenige,
die so gründlich ihre natürliche Verderbnis kennen, so daß es ihnen unmöglich
wird, für die eigenen Werke die Verantwortung zu übernehmen, wenn der Heiland
diese nicht auf sich nimmt. Nur jene suchen den Heiland, die sich nicht für
ihre Werke selbst verantworten können. Aber jene, die selbst für ihre Werke die
Verantwortung tragen wollen, suchen den Heiland nicht.
Wann kommt denn
die Zeit, da die Menschen beginnen, allgemeiner den zu suchen, der ein aus dem
Stamm Isais hervorgegangenes Reis war und deshalb der Sohn Davids genannt
wurde? Zu der Zeit - sagt der Prophet - suchen die Heiden ihn, wo die Wölfe
zahm wie Lämmer werden und die Säuglinge mit den Ottern spielen (vgl. Jes.
11,6-8). Es ist zwar schon geschehen - und passiert sogar heute dann und wann -
daß die Wölfe zahm werden, wenn sie die Züchtigung des Herrn getroffen hat.
Aber es gibt nur wenige, die durch den christlichen Glauben zahm wie Lämmer
werden. Der Prophet Jesaja wußte zwar vorher, daß die Heiden den Herrn suchen,
daß die Rettung für sie wichtig wird. Dies geschah schon während der Zeit der
Apostel und ein wenig später - also solange, wie das Christentum lebendig war.
Aber sobald dieser sein inneres Leben verlor - also der lebendige Glaube sich
in den toten Glauben verwandelte - da hörte man auf, den Herrn zu suchen. Man
begann, die Welt - und alles, was die Welt zu bieten hat - zu suchen, so wie es
in unseren Tagen passiert. Eine neue Erinnerung an die Eitelkeit und
Vergänglichkeit dieser Welt kam zwar durch Luther, und mancher begann, nach dem
Reis zu suchen, das aus dem Stamme Isais hervorgegangen war. Aber diese
Erweckung oder geistliche Bewegung dauerte nicht lange. Der lebendige Glaube
Luthers verwandelte sich bei denen, die sich mit ihrem Mund zur Lehre Luthers
bekannten, in einen toten Glauben. Wenn jemand 100 Jahre nach dem Tode Luthers
meinte, daß das gottlose Leben zu weit ging, so wurde er als Schwärmer
betrachtet. Und wenn jemand in unserem Lande meint, daß das gottlose Leben zu
weit geht, so wird er auch für einen Schwärmer gehalten. In der Dämmerung der
Zeit und in der geistlichen Finsternis sind wir schon so weit gegangen, daß wir
nicht sehen, wohin wir schlielich gehen. Es gibt noch einige Wenige, die
irgendwie in einem düsteren Licht erblicken, daß man in die Hölle geht. Was
hilft ihnen aber dieser Glaube, wenn sie die Hölle nicht von nah sehen? Sie
kennen ihre Schrecken und ihr Elend nicht, und darum erwacht in ihnen kein
ernsthafter Wille, den Herrn zu suchen. Sie verschieben also diese Frage: “Was
soll ich Gutes tun, daß ich das ewige Leben möge haben?” (Matth. 19,16) bis auf
weiters, bis es zu spät sein wird. Der größte Hund denkt, daß alles in Ordnung
ist, daß keine Gefahr drohe. Sie rufen “Friede”, obwohl kein Frieden da ist.
Wann kommt also
die Zeit, da die Heiden den Herrn suchen? Wir haben keine Hoffnung auf eine
solche Zeit, bevor alle Hoffnung zu Ende gegangen ist. Alle Hoffnung, die das
Himmelreich auf der Erde betrifft, muß zuerst verschwinden, bevor der Wille zu
etwas Besserem entstehen kann. Wir sehen nämlich, daß die Jünger Christi keinen
richtigen und lebendigen Glauben bekommen konnten, bevor all ihre Hoffnung auf
Glück und auf Seligkeit, die angeblich in der Welt waren, verschwanden. Solange
sie wünschten, hohe Herren in der Welt zu werden, konnten sie keinen Willen zu
etwas Besserem haben. aber sobald die falsche Hoffnung auf Glück und Seligkeit
beim Tode des Heilands verschwand, verzweifelten sie. Und durch diese
Verzweiflung bereiteten sie ihre Herzen darauf vor, die Gnade entgegenzunehmen.
Die Jünger konnten den Vorgeschmack der himmlischen Freude fühlen, als sie den
Herrn sahen. So muß zuerst auch jeder Mensch in die Verzweiflung geraten, bevor
er den Vorgeschmack der himmlischen Freude fühlen kann, und früher kann er auch
nicht von seiner Seligkeit überzeugt sein.
Diese
Gnadenordnung sagt ja auch nichts anderes als was Luther erfahren hat. Und ein
jeglicher, der ein richtiger Lutheraner sein will, muß erfahren, was Luther
erfahren hat. Was hilft es uns, daß Luther betrübt war, wenn wir nie betrübt
waren? Was hilft es uns, daß Luther den Haß Gottes und die Verdammung des
Gesetzes gefühlt hat, wenn wir nie den Haß Gottes und die Verdammung des
Gesetzes fühlten? Und was hilft es uns, wenn Luther durch den lebendigen
Glauben fühlte, daß der Himmel sich ihm an einem bestimmten Tag öffnete, wenn
wir nie so etwas erfahren haben? Wir müssen ein jeder persönlich zum Glauben
finden, so wie Luther auch zum Glauben gefunden hat. Siehe, hier ist die rechte
Gnadenordnung. Es wird von dir verlangt, daß du den Haß Gottes und die
Verdammung des Gesetzes fühlst, bevor die Seligkeit deiner Seele dir ganz
wichtig werden kann. Du sollst - sage ich - deinen unglücklichen Zustand
kennen, bevor du das Reis suchen kannst, das vom Stamm Isais ausging, dasselbe
Reis, das der Sohn Davids genannt wird, den alle Bekehrten gerufen haben und
den alle Heiden suchen, wenn sie in Seelenot geraten. Der Prophet sah im Geist,
daß die Heiden ihn suchen, nämlich ausdrücklich die Heiden, die er mit dem
eisernen Stabe weidet - mit der Gewissensqual und mit dem Leid des Herzens. Das
ist der eiserne Stab der Heiden, womit Christus Heiden weidet [in der
finnischen Übersetzung: züchtigt]. Und jene, die so gezüchtigt werden, müssen
wie David aus der Tiefe in die Höhe rufen (vgl. Ps. 130). Sie müssen wie die
Jünger weinen und heulen, sie müssen wie Luther Leid tragen. Sie müssen fragen,
wie sie selig werden können, sie müssen das Reis suchen, das vom Stamm Isais
ausging. Aber jene, die nie in der Gewissensqual und im Leid des Herzens
gewesen sind, die nie den Haß Gottes und die Verdammung des Gesetzes gefühlt
haben, die man nie mit dem eisernen Stabe züchtigte, die nie Leid getragen
haben - denjenigen wird die Seligkeit ihrer Seele nie so besonders wichtig
sein. Sie hungern und dürsten nie aufrichtig nach der Gerechtigkeit. Sie können
nie dieses heilige Reis Christus suchen. Und darum bleiben sie lebenslang
unbekehrte Heiden.
Hier habt ihr nun
die richtige Gnadenordnung vor euch. Hier habt ihr den Weg, der die enge Pforte
und der schmale Weg genannt werden. Wenn ihr in das Leben hineingehen wollt, so
müßt ihr dem Weg folgen, den Gott in seinem Wort gewiesen hat. Und denkt nun
nach, wie es um euch steht. Denkt daran, daß unser Leben hier sehr kurz ist -
und wenn es am besten ist, so ist es nur Arbeit und Unruhe. Und wenn der Tod
kommt, so nimmt er den Menschen mit in die Ewigkeit, so wie er ihn findet. Oh,
du Mensch, denke genau nach, bevor du dich auf diesen langen Weg machst. Sei
bereit, denn vielleicht heute oder morgen hörst du den Befehl: “Bestelle dein
Haus, denn du wirst sterben!” (2. Kön.20,1) Selig ist, der den Tod wie einen
Engel entgegennehmen kann, sogar als einen Engel, der einen in die Seligkeit führt.
Amen.