Am 11. Sonntag nach dem

Dreifaltigkeitstag

 

18) Das kommt von deiner Bosheit, da es so bitter um dich steht und dir bis ans Herz dringt. (19) Wie ist mir so weh! Mein Herz pocht mir im Leibe, und ich habe keine Ruhe. Jer. 4,18-19

 

 

Gott stellt durch den Propheten Jeremia das Bild eines Reumütigen vor unseren Augen dar und zeigt, in welch großer Not dieser ist, wenn die Sünden anfangen, in seinem Gewissen zu brennen. Aber diese Beschreibung wurde nicht deshalb geschrieben, damit die Reumütigen in Zweifel geraten, sondern darum, daß sie sich für große Sünder halten und in den Schoß des Heilands fliehen. Gott hofft auf den Tod keines einzigen Sünders. Es ist nicht der Wille Gottes, daß die reumütige Seele verschmachtet und an der Gnade Gottes zweifelt. Vielmehr soll der Mensch, der in Not ist, an der Tür des Himmels klopfen und kriechend näher zum Gnadenstuhl kommen. Aber die wahre Reue wird dem alten Adam zu einer so großen Mühe, daß er zu schreien und zu jammern beginnt, wie jene Frau, die in den Wehen des ersten Kindes ist. Die erweckten Seelen werden oft von der Ungeduld geplagt. Sie wollen nicht so lange warten, bis die Zeit der Entbindung kommt. Und wenn die Geburtswehen fühlbar sind, jammern sie, wie nach dem Propheten Jeremia die Tochter Zions klagt: “Wie ist mir so weh! Mein Herz pocht mir im Leibe und ich habe keine Ruhe..” Sicher tut es dem Herzen eines Bereuenden weh! Das weiß ein jeder aus eigener Erfahrung zu erzählen, der diese Pein erlebte.

Aber woher kommt diese Pein und Qual? Durch den Propheten sagt Gott der Tochter Zions, d.h. den reumütigen Seelen: “Das kommt von deiner Bosheit, daß es so bitter um dich steht und dir bis ans Herz dringt.” Wenn das Gewissen erweckt wird, so tut es dem Herzen weh. Die Sünde beginnt überall zu schmerzen. Die erweckten Seelen müssen oft besonders mit der Selbstgerechtigkeit kämpfen. Sie ist wie ein Damm in der Brust. Sie nimmt den Atem und beklemmt die Brust, so daß der Mensch in seiner Not nichts anderes als Tod und Verdammung vor Augen sieht. Mancher erweckte Mensch ist wegen der Selbstgerechtigkeit in sehr großer Not. Er kann aber nicht seinem Heiland näherkommen, weil die Selbstgerechtigkeit ihn nicht durch die enge Pforte hineinläßt. Die menschliche Gerechtigkeit sagt: “Graben kann ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln.” (Lk.16,3)

Manch erweckter Mensch macht es so wie die Frau (Matth. 9,20-22), die seit zwölf Jahren an Blutfluß leidet und all ihr Eigentum für Medikamente verbrauchte. Sie mochte sich nicht melden, um den Heiland öffentlich um Hilfe zu bitten, sie schlich vielmehr hinter den Leuten her und begann im Gewühl der Menschen näher und näher zu drängen. Zuletzt kam sie dem Heiland so nahe, daß sie mit der Fingerspitze den Saum seines Gewandes berührte. So listig sind einige Gnadendiebe, daß sie von hinten heranschleichen. Sie wollen nicht öffentlich zu Jesus kommen, um ihre Not zu beklagen, sondern sie wollen hinter seinem Rücken seine Gnade stehlen. Zwar stahl diese Frau dem Heiland die Gnade, aber es geschah ihr so wie den anderen Gnadendieben: sie konnte ihren Diebstahl nicht verbergen. Er kam sofort ans Licht, als Jesus fragte, wer ihn berührt hatte. Und obwohl es mit der Frau glücklich ausging, weil sie das große gestohlene Gut behalten konnte, weil sie sich meldete und öffentlich Jesum vor allen Leuten bat und ihre Fehler bekannte, so ist es nicht ohne weiteres sicher, daß alle Gnadendiebe das gestohlene Gut behalten können. Denn die meisten Gnadendiebe wollen nicht sagen, wann und wie sie die Gnade erhalten haben, besonders jene, die in keinerlei geistlicher Not gewesen sind und so viel eigene Gerechtigkeit haben, daß sie gar nicht zu stehlen brauchen.

Obwohl die erweckten Seelen nicht über so viel Selbstgerechtigkeit wie die Gottlosen verfügen sollten, bleibt diese falsche Gerechtigkeit doch an ihnen hängen und hindert sie daran, zu Jesus zu kommen. Die Selbstgerechtigkeit will folgende Gedanken den bereuenden Seelen nahebringen: “Du bist nicht würdig, vor die Augen Jesu zu kommen, bevor du dein Leben gebessert hast. Jesus nimmt so einen großen Sünder wie dich nicht an. Es ist nicht möglich sich vorzustellen, daß dir deine Sünden in deinem jetzigen Zustand vergeben werden, wenn du nicht zuvor dein Leben gebessert hast.” Mit derlei Gedanken fängt nun ein erweckter, aber mit seiner Selbstgerechtigkeit im Streit liegender Mensch an, gegen die Versuchungen der Sünde zu kämpfen. Er beginnt mit Händen und Füßen den Berg Sinai zu besteigen; er hört das Donnern und sieht die strenge Gerechtigkeit Gottes blitzen.: “Komm nicht her, Israel, du ertrinkst, wenn du den Berg Sinai besteigst.” Der Sündige kommt aber nicht vom Berg herunter, ehe er in der äußersten Lebensgefahr ist. Er versucht wenigstens, sein Leben zu bessern und sittlich zu werden, bevor er beginnt, um Gnade zu betteln. Er wird sofort von den Versuchungen der Sünde getroffen, wenn er Buße tun will. Die sündigen Gedanken ragen hervor wie feurige Pfeile, die der Feind in das Herz eines bereuenden Menschen schießt. Er kämpft Tag und Nacht mit diesen Gedanken und will sie um jeden Preis loswerden. Wie kann er sie aber loswerden, wenn sein Herz nicht versöhnt ist? Die üblen Gedanken dringen immer wie feurige Pfeile in sein Herz. Und von woher kommen solche fürchterlichen Gedanken, die das Herz der Erweckten beschweren? Gedanken, die sie früher im Zustand der Gottlosigkeit nicht kannten, die sie erst nach der Erweckung des Gewissens quälen. Es sind allein die feurigen Pfeile des Bösen, (vgl. Eph. 6,16), die de in das Herz eines Menschen schießt. Er will durch solche Versuchungen das Gewissen der Erweckten zerreißen, damit er sie verschlucken kann, bevor sie in den Schoß des Heilands fliehen. Alle Erweckten verstehen es nicht,  sofort zum Schoß des Heilands zu laufen, wenn der Feind anfängt, ihre Gewissen zu zerreißen, sondern sie versuchen zuerst mit eigener Kraft dagegen zu kämpfen. Wie groß ist die Kraft des Menschen, wenn er gegen den Drachen kämpfen muß? Der Mensch ist wie ein neugeborenes Lamm neben dem Wolf. Wenn der Wolf einmal zubeißt, ist das Lamm schon tot. Und einige Lämmer sind so töricht, geradezu in den Rachen des Wolfes zu laufen.

Lauft nicht in den Rachen des Wolfes, ihr verwundeten Schafe! Kämpft nicht gegen den Drachen, ihr trübseligen Seelen! Ihr seid nicht imstande, gegen ihn zu kämpfen, sondern flieht schnell in den Schoß des Heilands und saugt einen Gnadentropfen von seiner Brust, die voll von Gnade ist! Die Gnadentropfen fließen umsonst in die Erde, wenn ihr nicht den Mund aufmacht und sie schluckt, wenn der Heiland die Gnadentropfen in eure Herzen einträufelt. Damit die Kreuzträger es unterlassen, den Berg Sinai zu besteigen und im Tal der Gnade bleiben, sollten wir heute den Berg Sinai ausmessen, und zum Vergnügen jener, die im Tal der Gnade bleiben, sollten wir untersuchen, wie niedrig der Berg Golgatha ist. Der Heilige Geist zeige uns den Weg, daß die Gnade suchenden Seelen sich nicht auf der rechten oder linken Seite verirren, wenn sie losgehen! Amen! Vater unser im Himmel...

 

Evangelium: Lk. 18,9-14

 

(9) Er sagte aber einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die anderen, dies Gleichnis: (10) “Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine Pharisäer, der andere ein Zöllner. (11) Der Pharisäer stand für sich und betete so: ‘Ich danke dir, Gott, da ich nicht bin wie anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. (12) Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.’ (13) Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an sene Brust und sprach: ‘Gott, sei mir Sünder gnädig!’ (14) Ich sage euch: dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.”

 

Der Zustand eines gottlosen Menschen auf dem Berg Sinai und der Zustand eines erweckten Menschen im Tal der Gnade wird uns im heiligen Evangelium von heute unter dem Namen eines Pharisäers und eines Zöllners vorgestellt. Es soll uns als Beispiel dienen, wenn wir durch die Gnade Gottes das Gebet des Pharisäers und das Seufzen des Zöllners untersuchen. Laßt uns also nachdenken: was ist der Grund für die Seligkeit der Gottlosen, und was ist der Grund für die Seligkeit der Erweckten?

Aber der Herr beleuchte unsere finstere Vernunft und leite uns auf den Weg des Lebens!

Daß der Pharisäer auf den hohen Gipfel des Berges Sinai stieg, hören wir sofort aus seinem Gebet, wo hohe Gedanken wie die Adler unter dem Himmel fliegen. Er war in dem Glauben erzogen worden, daß die Sittlichkeit des Menschen nötig ist. Die heutigen Pharisäer, die immer noch denselben Glauben haben, vertrauen darauf, daß Ehrlichkeit und Sittlichkeit notwendig sind. Man hört sofort, daß die natürliche Sittlichkeit der Grund ihrer Seligkeit ist; denn obwohl sie mit dem Mund bekennen, daß alle Menschen sündig sind, widerstehen sie doch sehr, wenn jemand beginnt, an ihrer Seligkeit zu zweifeln oder ihre Lieblingssünden benennt, die sie verbergen und bestreiten wollen. Der Pharisäer kommt prächtig in den Tempel Gottes, um zu beten. Die Sünde quält sein Gewissen überhaupt nicht, weil er Gott dafür dankt, daß er nicht so böse ist wie andere Sünder. Er ist kein Dieb, kein Räuber, kein Ehebrecher. Er ist nicht so böse wie der Zöllner, der neben ihm steht und seufzt. Er zählt noch auf, wieviel Gutes er in der Welt getan hat: “Ich faste zweimal in der Woche und geben den Zehnten von allem, was ich einnehme.” Braucht so ein Mann noch um die Gnade zu betteln, der so respektabel ist, und der so viel Sittlichkeit hat, so daß da genug übrigbleibt, um den andern etwas abzugeben?

Die heutigen Pharisäer brauchen nicht zu bekennen, daß sie in einem ähnlichen Seelenzustand sind, wie jener, von dem der Heiland sprach. Aber ihre Gedanken kommen ans Licht, wenn man den alten Adam berührt, d. h. wenn jemand an ihrer Sittlichkeit zweifelt. Wenn jemand an ihrer Seligkeit zweifelt, besonders dann kommt der alte Adam ans Licht. Sie wollen nicht hören, daß man ihr Leben verachtet, denn sie haben so viel Gutes in der Welt getan, daß sie sich nicht zu schämen brauchen, weder vor Gott noch vor den Menschen.  Es ist nicht erstaunlich, daß die Pharisäer so hoch auf den Berg Sinai steigen, daß ihre Pracht und ihr Hochmut nur wie ein Tüpfelchen auf dem Gipfel des Berges aussieht. [] Es ist entsetzlich zu sehen, wie sie dann da herunterfallen, wie ihnen das Blut aus dem  Mund fließt. Sie fliegen wie Bälle in das Moor des Zweifels, wo sie sich den Nacken brechen [].

Es ist aber ein noch größeres Wunder, daß auch die erweckten Seelen, von denen alle Hörner und Flügel der Sittlichkeit abgefallen sind, auch denselben Berg besteigen wollen, obwohl sie sahen, wie die Pharisäer, die Bekenner des toten Glaubens, die zwar ihrer Natur nach sittliche Leute zu sein scheinen, gerade deshalb ohne Gnade sein müssen, weil sie so hoch fliegen wollen, [und] weil sie so sittlich und so fromm sind, daß die Sünde sie niemals quält. Aber die Selbstgerechtkeit ist so tief im Menschenherz verwurzelt, daß auch die Erweckten, die ihre Sünden kennen und sich deshalb an die Brust schlagen und seufzen, den Berg Sinai besteigen wollen, um mit der Besserung des Lebens sich die Gnade zu verdienen. Sie kämpfen solange mit ihrer Selbstgerechtigkeit, so daß sie schließlich in Zweifel geraten, obgleich das Wort Gottes überall davon zeugt - wie auch der Heiland im heutigen Evangelium aufzeigt - daß der Zöllner gerechtfertigt hinab in sein Haus ging. Nicht deshalb, weil er schon sein Leben gebessert hätte, sondern weil er sich an die Brust schlug und seufzte: “Gott sei mir gnädig!” Er besaß nämlich ein demütiges und zerbrochenes Herz. Es ist nämlich die Hauptsache, daß wir ein zerbrochenes Herz haben. Der himmlische Vater verlangt, daß das bereuende Kind wirklich Sorge und Kummer wegen seiner Sünde hat. Und wer nach dem Willen Gottes nicht die Sorge hat, der ist noch nicht in der Lage, daß die Gnade ihm aus seinem elenden Zustand hilft.

Aber nun meint mancher erweckte Mensch, daß er zuerst sein Leben bessern muß, bevor er zum Schoß des Heilands flieht. Wie kann er aber dies tun, ehe er durch die gnädige Züchtigung Gottes versöhnt wurde, bevor er sein äußeres gottloses Leben aufgegeben hat. Ein erweckter Mensch ist nicht so kühn, Gott zu lästern, weil der Tadel des Gewissens ihn bereits gepeitscht hat. Aber kein erweckter Mensch kann die Gedanken des Herzens und die Versuchungen der Sünde, die in seiner Seele fühlbar sind, beherrschen, bevor er mit Gott versöhnt wird. Wenn das Herz nicht versöhnt ist, ist der Kampf des Menschen vergeblich. Aber durch die Gnade kämpft eine bessere Kraft gegen die Versuchungen der Sünde. Ein erweckter Mensch bemerkt dies nicht sofort. Er kämpft vielmehr mit seiner eigenen Kraft gegen die Sünden sowie all die anderen üblen Begierden und Lüsten. Aber niemand anders als die Selbstgerechtigkeit ruft solche Gedanken im Herz eines Menschen hervor, als ob Jesus nicht reumütige Sünder entgegennehme, ehe sie ihr Leben verbessert haben. Der Mensch kann jedoch nicht durch die Besserung seines eigenen Lebens die Gnade verdienen. So denken aber manche Leute. Danach wollen sie zuerst ihr Leben bessern. Erst dann halten sie es für möglich, daß man der Gnade Gottes teilhaftig wird. Derjenige, der von der Selbstgerechtigkeit erfüllt ist, meint oft: “ Warum habe ich soviel Sünde? Wäre ich meine Sünden los, so könnte ich glauben, daß Gott mir gnädig ist.” Aber wie willst du von den Versuchungen der Sünde loskommen? Vielleicht durch die Besserung deines Lebens? Das ist aber ein nutzloser Gedanke. Alle, die versuchten, ihr Leben zu bessern, bevor sie mit Gott versöhnt wurden, sind böser, aber nicht besser geworden. Je mehr sie es versucht haben, desto böser sind sie geworden. Je mehr man mit den eigenen Kräften gegen die Versuchungen der Sünde kämpft, desto schlimmer werden sie.

Wenn du die Versuchungen der Sünde loswerden willst, so fliehe schnell zum Schoß des Heilands. Du bist allein auf dem Feld, wie ein verwundetes Schaf unter den Wölfen. Was tust du allein im Walde unter den bösen Geistern? Es ist unmöglich für ein zerbrochenes Herz, das nicht versöhnt ist, vor den feurigen Pfeilen des bösen Geistes zu weichen. Fliehe bald zum Schoß des Heilands, und du wirst fühlen, wie der Teufel flüchtet. Aber die Selbstgerechtigkeit ist groß - auch bei den Erweckten -, obwohl sie sie nicht sehen. Sie erkennen andere Sünden bei sich, aber ihre eigene Gerechtigkeit ist verborgen. Sie können sich nicht vorstellen, daß die größte Sünde, mit der sie sich gegenüber dem Heiland vergehen, darin besteht, daß sie durch die Besserung ihres Lebens versuchen, die Kraft seiner Versöhnung aufzuheben. Sie tun so, als ob es im Blut des Heilands nicht den vollen Preis zur Zahlung für alle Sünden gäbe - sowohl der großen als auch der kleinen, sowohl der geheimen als auch der öffentlichen. Aber so ist die Selbstgerechtigkeit. Sie liegt auf dem Boden des Herzens wie ein schwarzer Wurm, der an den Wurzeln des Herzens nagt. Sie ist den Erweckten unsichtbar und unbekannt und schließt die Tür zum Himmel zu, damit sie nicht hineinkommen. Dieselbe Selbstgerechtigkeit bringt oft folgende Gedanken beim erweckten Menschen hervor: “Ich, der ich so unrein bin, wage nicht zu Jesus zu gehen. Ich habe soviel Sünde auf mich geladen, daß mich jeder schrecklich findet. Wie kann ich ein Kind Gottes werden, der ich so voller Unreinheit, Unzucht, Haß und anderer schrecklicher Dinge bin?”

Höre zu, wie du den Heiland zum Lügner stempelst und seinen Tod vergebens machen willst! Du willst zwar von den Versuchungen der Sünde gerettet werden, aber nicht durch den Heiland, nicht durch die Versöhnung, sondern durch die Besserung deines Lebens - was unmöglich ist. Demzufolge stellst du deine eigene Gerechtigkeit vor die Gerechtigkeit Christi. Ist dies nicht eine große und grausame Sünde, die du noch nicht als Sünde erkannt hast? Die Sünden hindern dich nicht daran, ein Kind Gottes zu werden. Aber deine eigene Gerechtigkeit hat dir die Tür des Herzens so versperrt, daß der Gnadentropfen dorthin nicht dringt. Du willst dir durch die Besserung deines Lebens die Gnade verdienen. Aber du hast einen ganz falschen Weg gewählt. Wenn du nicht durch die Gnade ein Kind Gottes wirst, kannst du es bestimmt niemals durch die Besserung deines Lebens werden.

Mach deinen Mund auf, du Schwalbenjunges, [die Mutter] bringt dir Nahrung! Öffne dein Herz, betrübte Seele, und nimm an, der Heiland vergießt dort einen Tropfen seiner Gnade! Er ist für jene geeignet, die hungern - den Schwalbenjungen, die nicht fliegen können. Er ist aber nicht für die Wölfchen geeignet, die Luder fressen. Sie können aus dem Topf labbern, wo der Vater der Lüge das Schlafgetränk gekocht hat. Wir wissen, daß die Wölfchen blind geboren wurden und in den Höhlen wohnen, weil ihre Augen das Licht nicht ertragen können. Wenn sie aber größer werden, fangen sie an, Schafe zu reißen. Wenn ein vom Wolf verwundetes Schaf nicht bald zum Hirten flieht, so wird es sicher bald Futter für die Raubtiere. Wenn ein erweckter Mensch nicht bald zur Gnade des Heilands flieht, kommt der Feind und schießt die feurigen Pfeile in sein Herz. Er bringt schreckliche und liederliche Gedanken in den Sinn des Menschen. Durch diese Versuchungen will er betrübte Seelen in Zweifel versenken. Er fällt sie durch die Selbstgerechtigkeit, damit sie nicht zum Schoß des Heilands fliehen können. Wenn der Satan sich in den Engel des Lichtes verwandelt, erscheint die Selbstgerechtigkeit sehr schön und glänzend, als ob sie vergoldet wäre, und man erinnert sich immer an ihre Mahnungen: “Ich dürfte in diesem Zustand Gott nicht gefällig sein. Wie kann ich ein Kind Gottes werden, weil ich so viel Sünde habe? Es ist unmöglich. Kein einziger soll denken, daß er zum Heiland kommt, bevor er sein Leben gebessert hat.”

Höre nun, lieber Mensch, wie die Gedanken der Selbstgerechtigkeit wie Gold glänzen! Wer es nicht besser weiß, wie solche Gedanken in den Menschensinn kommen, könnte meinen, daß es sich hier um Gedanken eines Engels handelt. Aber die Gedanken, durch die die Teufel betrübte Seelen fällen wollen, damit sie nicht zum Schoß des Heilands kommen, sind nichts weiter als Drachengift und Spuren des alten Adams. Im Gottlosigkeitszustand hat der Mensch sich daran gewöhnt, der Sittlichkeit zu vertrauen, und was ihm an Sittlichkeit mangelt, hat er durch die gestohlene Gnade ersetzt. Dann denkt der Mensch: “Gott ist jedoch barmherzig, er wird vergeben, wo ich vielleicht übergetreten bin.” Ein Gottloser zweifelt nie an seiner Seligkeit, denn er hat soviel Tugend und noch dazu einen so starken Glauben, daß er selig wird, wie unrecht sein Leben auch wäre und wieviel er auch gegen die Gebote Gottes verstößt. Der Mensch kann im Gottlosigkeitszustand saufen, fluchen und sich schlagen, die Ehe brechen und stehlen, und ebensogut kann er sich darauf verlassen, daß er selig wird. Wenn aber der Mensch erweckt wird und beginnt, seine Sünde zu erkennen, denkt er, daß es unmöglich sei, vor Gott zu gefallen, bevor er sein Leben gebessert hat. Aber der Teufel verblendet seine Augen so, daß er gar nicht sieht, wie unmöglich es ist, sein Leben zu bessern, ehe er in den Schoß des Heilands gekommen ist und ihm seine Sünden vergeben sind. Ein erweckter Mensch kann es sich nicht vorstellen, daß die Besserung des Lebens nach der Versöhnung geschehen soll - und nicht davor. Der alte Sauerteig der Pharisäer (vgl. Matth. 16,6) verwirrt seine Gedanken und der Teufel verdreht sein Herz. Wenn das Innere des Herzens verdreht wird, beginnen alle Schwären des Herzens zu riechen und der Eiter fließt. Wenn der Sünder mit seinen eigenen Augen die häßlichen und schrecklichen Gestalten sieht, die sich im Herz bewegen, erschreckt er sehr und denkt: “Es ist nicht möglich, für Gott in diesem Zustand zu taugen. Ich muß die bösen und schrecklichen Gedanken, die in meinem Herz wohnen, ausräumen.” Und nun beginnt der Sünder, durch die Besserung des Lebens angeblich sein Herz zu läutern und zu reinigen. Aber je mehr er bessert und kehrt, desto mehr Dreck kommt zusammen. Je mehr er seiner Meinung nach reinigt, desto entsetzlicher wird das Herz. Siehst du nicht, du elender Mensch, daß die Selbstgerechtigkeit dich dazu antrieb, dein Herz zu bessern und zu reinigen, daß aber niemand anders als der Herr Jesus selbst dich reinigen kann? Du hast sieben Teufel in deinem Herzen. Durch welche Kraft treibst du sie aus? Wenn du anfängst, gegen sie zu kämpfen, lachen sie dich aus und sprechen: “Ach, ein Wettbewerb?” Sie fliehen für einen Moment, aber sie kommen nach kurzem durch eine andere Tür wieder herein und zerreißen das Gewissen so schlimm, daß der Mensch durch sie kraftlos wird. Es herrscht große Not. Es entsteht dadurch ein schrecklicher Krieg, weil die Selbstgerechtigkeit, die der Hauptteufel im Menschenherzen ist, sich in den Engel des Lichts verwandelt und den Menschen aufwiegelt, gegen die anderen Teufel zu kämpfen. Der Mensch versucht selbst, sein Herz zu reinigen und läßt Jesus dies nicht tun. Er versucht selbst, die Teufel auszutreiben und läßt Jesus dies nicht tun. Die Selbstgerechtigkeit zwingt ihn dazu, Hilfe in der Besserung des Lebens zu suchen - aber nicht in den Wunden Jesu. Dieser schwarze Wurm kommt dann wie ein Knäuel in die Brust und nimmt den Atem, so daß der Mensch nicht die Luft der Gnade einatmen kann. Mancher Kreuzträger ist nahe dabei, wegen seiner eigenen Gerechtigkeit zu verschmachten, die wie ein Rauch vom Abgrund aufsteigen.

Ist es nicht eine große Sünde und Greuel, daß der Sünder den Heiland zum Lügner machen will, weil er durch seine eigene Gerechtigkeit den Versöhnungstod Jesu unnötig und wertlos machen will? Man öffnet wieder die Wunden Jesu, wenn man meint: “Jesus hat zwar die Pein und Qual der Hölle meinetwegen erlitten, aber seine Pein und Qual können mir nicht helfen, bevor ich mein Leben gebessert habe.” Siehe! Hier kommt wieder die Selbstgerechtigkeit vor. Eine Schlange liegt in diesen Worten verborgen: “Bevor ich mein Leben verbessert habe.” Die Selbstgerechtigkeit spricht noch: “Jesu Blut kann mich nicht allein reinigen.” Was denn? Die Besserung des Lebens vielleicht? Kann sie dich vor der Hölle retten? Die menschliche Gerechtigkeit spricht außerdem: “Jesu Verdienst ist kein vollständiger Preis, bevor ich mich nicht gebessert habe, sondern erst danach.” Füge noch die Besserung des Lebens hinzu, erst dann ist das Verdienst des Heilands vollkommen. Ist die Sache so? Es ist aber der Glaube des Papstes, daß das Verdienst des Heilands nicht vollkommen sei, wenn der Mensch sein Leben nicht zuvor gebessert hat. Es ist der Glaube Luthers, daß der Mensch gerecht wird durch das Verdienst des Heilands ohne Werke. Die Besserung des Lebens gehört aber zu den Werken. Sie gehört nicht zum Glauben und zur Rechtfertigung. Durch den Glauben an Jesus wird der reumütige Sünder ohne Werke zu den Gerechten gezählt. Aber die Selbstgerechtigkeit macht noch eine Kurve mit der Frage: “Wie kann der Mensch Gott gefallen, ohne Buße zu tun? Soll der Mensch nicht sein Leben bessern?” Sicher muß er dies, aber nicht bevor, sondern erst nach dem er versöhnt, begnadet und gerechtfertigt wurde; denn wenn er zuvor beginnt, sein Leben zu bessern, wird er nie geläutert und kommt nie zum Heiland. Er kämpft vergebens gegen die Teufel, die in seinem Herzen wohnen. Sie verlassen den Menschen nicht durch seine Besserung. Der Mensch kann nicht sein Herz reinigen, sondern das Blut des Heilands macht es. Es macht den Menschen schön vor Gott. Das Versöhnungsblut ist die Heilung eines zerbrochenen Herzens; aber dasselbe Blut ist für den Teufel wie Gift. Gleich, wenn der Heiland einen Gnadentropfen in das Menschenherz gießt, flieht der Teufel. Sofort, wenn der Mensch fühlt, mit Gott versöhnt zu sein, entfernen sich alle die schrecklichen Gedanken und die Versuchungen der Sünde, die ihn im erweckten Zustand plagten. Durch die Versöhnung bekommt die Seele Frieden und Ruhe. Dadurch bekommt sie Kraft, allen feurigen Pfeilen des Bösen zu widerstehen.

Mach deinen Mund auf, du Schwälbchen, wenn [die Mutter] dir Futter bringt! Öffne dein Herz, du betrübte Seele, der Heiland gießt Gnadentropfen in dein Herz! Fliehe schnell zum Schoß des Heilands, du vom Habicht bedrängte und verletzte Meise! Verlasse nicht deinen Schutz, bevor du die Kraft zum Fliegen bekommst! Wenn der Wolf die Hündchen des Hauses fressen will, geht er herum, wälzt sich im Schlamm und tut so, als ob er ganz kraftlos wäre. Er wimmert, damit die Hündchen auf ihn hereinfallen. Verlaßt aber nicht euren Schutz, ihr Hündchen, die ihr die Brocken eßt, die vom Tisch des Herrn fallen! Bestimmt ist der Wolf stärker als ihr, wenn ihr so verrückt wäret, daß ihr den Schutz verließet und anfanget, euch mit dem Wolf zu schlagen. Auch wenn der Teufel sich in einen Engel des Lichts verwandelt und begnadete Seelen zu sich zum Spielen lockt, geht nicht dorthin. Wenn die Selbstgerechtigkeit euch in den Kopf steigt und folgende Gedanken in das Gedächtnis bringt: “Du hast noch nicht Buße getan, du bist kein Kind Gottes, weil du so viel Sünde hast”; hört nicht darauf, begnadete Seelen, was der Teufel euch ins Ohr flüstert, sondern bleibt nur im Schoß des Heilands! Weint vor seinen Füßen, saugt Gnadengetränk von seinen Wunden und sagt wie der reumütige Zöllner: “Gott sei mir gnädig!”

 

Amen.