Am zweiten Bettag
Abendpredigt im
Jahre 1855
Wo ist solch ein
Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt? Micha 7,18
Es heißt in
diesen Worten des Propheten Micha, daß Gott so ein wunderbarer Gott ist, der
die Sünden denjenigen vergeben kann, die sich an Ihm versündigen. Der Gott der
Welt dagegen kann denen nicht vergeben, die sich gegen ihn stellen, während der
himmlische Gott dies tun kann. Da wahre Buße und Bekehrung geschehen, ist der
Gott der Welt so hart und streng, daß er denen nicht vergibt, die sich gegen
ihn wenden. Darum glaubt er nicht, daß der himmlische Gott ein wahrer Gott ist,
der Sünden vergibt. Und da der Prophet Micha diese merkwürdigen Worte an die
Kinder Israels schreibt: “Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünden
vergibt?”, so könnten wir die Worte des Propheten dahingehend verstehen, daß
die Selbstgerechtigkeit ihn dazu verleitet hätte, sich darüber zu wundern, wie
der himmlische Gott die Sünden vergeben kann. Der Gott der Welt kann ja denen
nicht vergeben, die sich an ihm versündigen. Das Gesetz der Welt ist so
geschaffen, daß man dem Verbrecher nicht vergibt, wie reumütig er auch wäre.
Das Gesetz begnadigt niemanden, auch wenn der Richter schließlich jemandem
Strafnachlaß gewährt. Der Richter muß nämlich dem Gesetz gemäß verurteilen.
Denn wenn der Richter nicht dem Gesetz gemäß vorgeht, so würden alle Verbrecher
sagen: “Es ist ein ungerechter Richter, der nicht nach dem Wortlaut des
Gesetzes Recht spricht.” Wenn der Richter einen Mörder zum Tode verurteilt,
einem anderen Mörder jedoch vergäbe, so würden alle sagen: “Er ist ein
ungerechter Richter, da er einen Mörder zum Tode verurteilt, einen anderen aber
freispricht.”
Der himmlische
Richter hat nun ein Gesetz gegeben, wonach alle, die sich am Gesetz
versündigen, verurteilt werden. Und das irdische Recht verlangt, daß alle
Mörder sterben sollen, alle Diebe an der Schandsäule stehen, alle Huren die
Kirche mit Teer bestreichen, alle Säufer eine Geldstrafe leisten. Wenn der
Richter einen Verbrecher nach seinem Vergehen verurteilt, einen anderen aber
freispräche, so würden alle, die man verurteilt hat, sagen: “Er ist ein
ungerechter Richter. Er verurteilt nicht alle nach der Schwere ihrer Missetat.
Sicher hat er von einigen Geschenke genommen.”
Nach dieser
Recht[svorstellung] ist auch Gott ein ungerechter Richter. Er verurteilt einige
zur Hölle, andere nicht. Der Prophet Micha wundert sich also darüber, wie Gott
einigen Sündern vergeben kann, obwohl das irdische Recht verlangt, daß alle
Verbrecher verurteilt werden müssen. Das irdische Recht berücksichtigt ja
nicht, wer reumütig und wer verhärtet ist, sondern es verurteilt alle gemäß
ihrer Vergehen. Wie kann also Gott einigen ihre Sünden vergeben und anderen
nicht? Das ist wahrlich eine sonderbare Sache, die die Vernunft nicht begreift.
Und die Selbstgerechtigkeit kann sich nicht damit abfinden, daß man einige in
das Himmelreich hineinläßt und andere in die Hölle wirft, da alle nach ihren
Werken die Verdammnis verdient haben. Der Teufel des Neides kann nicht
zugestehen, daß einige bestraft und andere verschont werden. Der Teufel der
Ehre kann nicht hinnehmen, daß man den einen die Ehre nimmt und den anderen die
Ehre zurückgibt, da alle ehrlos sind. Man kann kurz sagen, daß alle Teufel in
der Hölle schreien: “Er ist ein ungerechter Richter, da er nicht nach Verdienst
verurteilt.” Ein gerechter Richter zeichnet sich dadurch aus, daß er die
Schuldigen gemäß ihrer Verbrechen verurteilt und Unschuldige freispricht.
Niemand, der den Ansichten der natürlichen Vernunft folgt, kann dem Recht entgehen.
So wird Gott ungerecht, wenn er nicht dem Gesetz der Selbstgerechtigkeit folgt,
wenn er nicht nach dem irdischen Recht verurteilt und überhaupt nicht dem Recht
folgt, das von den Unbußfertigen als gültig betrachtet wird. Dagegen nimmt er
Geschenke von einigen an und läßt diejenigen los, die nach dem irdischen Recht
die Strafe abbüßen müßten, aber er verurteilt diejenigen streng, die ihn nicht
bestechen können. Handelt so ein gerechter Richter? Und in welcher Hinsicht
sind bereuende Teufel besser als unbußfertige?
So urteilt die
Welt; und der Teufel der Selbstgerechtigkeit kann gar nicht so urteilen, daß
die einen in die Hölle und die anderen in den Himmel geraten, denn alle
Verbrecher sollen gemäß ihrer Taten leiden. Unschuldige können aber weder der Teufel
noch die Welt verurteilen. So lautet das Gesetz der Selbstgerechtigkeit, und
alle bekennen, daß dieses Gesetz richtig ist. Darum sagt der Prophet: “Wo ist
solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt?”
Wir wollen
ausführlicher prüfen, wie Gott einigen Sünden vergeben kann und anderen nicht.
Wir müssen aber zuerst von oben um Verständnis und Weisheit bitten, damit wir
verstehen, wie groß die Breite, Länge, Tiefe und Höhe der Liebe Gottes ist, da
der Teufel der Selbstgerechtigkeit Tag und Nacht die Kinder Gottes anklagt, daß
sie Ehebrecher und Diebe sind und an der Recht[sauffassung] festhält, daß Gott
ein ungerechter Richter ist, wenn er sie nicht nach Verdienst verurteilt. So
sollten die Kinder Gottes wissen, wie Gott den Reumütigen die Sünden vergeben
und doch ein gerechter Richter sein kann. Wer weiß, ob die Reumütigen dem
Richter Geschenke gegeben haben, da Er es nicht über sich bringen konnte, sie
zu verurteilen - oder haben sie Ihn anderswie überredet?
Reumütige Seelen,
habt ihr diesem Richter Geschenke gegeben, habt ihr Ihn überredet? Die Welt
klagt euch an, daß ihr Ehebrecher und Diebe seid; die Selbstgerechtigkeit klagt
euch an, daß ihr den Richter bestochen habt. Der Neid klagt an, daß euer
Richter ungerecht ist, da er solchen Scheinheiligen die Sünden vergibt. Der
Teufel treibt euch hinaus aus der Hölle, wenn ihr dorthin kommt, um zu opfern
und zu seufzen. Der Teufel will solche Scheinheiligen nicht sehen. Was sollt
ihr also tun, da der Teufel sowohl den Körper als auch die Seele in der Hölle
umbringen will? Habt ihr irgendwo Schutz, entweder im Himmel oder auf der Erde?
Es darf den Schutz nirgendwo anders als auf dem Berg Golgata am Fuße des
Kreuzes geben. Gebt dem Richter Geschenke, opfert ihm alles, was sich außerhalb
eures Geistes befindet. Vielleicht kann er das Recht der Hölle und der Erde so
verwandeln, daß man euch von aller Verantwortung befreit, obwohl ihr Mörder,
Ehebrecher und Diebe seid. Bringt dem Richter Geschenke! Bringt dem Richter
Geschenke! Bringt Geschenke geheim und offen und betet Ihn an, daß Er euch von
den Beschuldigungen des listigen Anklägers befreit, der euch Tag und Nacht
anklagt. Höre das Flehen und das Opfer der Herzgeschenke dieser wenigen Seelen,
o Du himmlischer Richter und Vater! Vater unser, der Du bist im Himmel.
Der Text der
Abendpredigt lautet wie folgt: “Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere
Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres
werfen.” (Micha 7,19)
Der Prophet Micha
hat im Text der heutigen Abendpredigt erklärt, wie Gott, ohne daß er ungerecht
wird, das Recht des Teufels und der Welt so verwandeln kann, daß die Mörder,
Eheberecher und Diebe von aller Verantwortung befreit und im Gericht des
Himmels gerechtfertigt werden. Eine offene Ungerechtigkeit ist geschehen. Man
hat die Übertreter des Gesetzes vor Gericht gezogen, einige hat man schon in
den Kerker gebracht und mit den Eisenketten der Selbstgerechtigkeit an Händen
und Füßen gebunden. Diese Gefangenen des Todes werden dann vom Kerkermeister
zum Gericht geführt. Der Ankläger steht da und verlangt vom Richter, daß man
sie zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilen muß, da die Zeugen vollständig
bewiesen haben, daß die Gefangenen Räuber, Mörder, Ehebrecher und Diebe sind.
Und nun wartet der Ankläger und die ganze Landschaft, die sich solcher Sachen
nicht schuldig fühlen, die gesamte gottlose Landschaft, die “Kreuzige!”
schreit, wartet, wann der Richter das Urteil verliest, so daß die Verbrecher
verurteilt werden, wie es der Ankläger fordert.
Nun aber hört der
Richter, wie sein Sohn vom Kreuz ruft: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?” (Matth. 27,46) Und sobald diese Stimme des Gottessohnes die
Ohren des Vaters erreicht, wendet er die Augen zu seinem Sohn und vergißt die
Mörder. Er vergißt die Verbrecher und ihre Übertretungen und schaut nur seinen
Sohn an, der in großer Qual und im Todeskampf ruft: “Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?” Diese Worte im Text “...unser wieder
erbarmen...” bedeutet, daß Gott sich zu seinem Sohn wandte und begann, seine
Qual anzuschauen. Bei diesem Anschauen
vergißt Er seine strenge Gerechtigkeit und erinnert sich nicht mehr an unsere
Sünden. Mörder, Räuber, Ehebrecher und Diebe werden von aller Verantwortung
frei, und man läßt sie los, und stattdessen verurteilt das Gericht den Sohn
Gottes zum Tode. Man läßt diesen Räuber und Mörder Barabbas frei und er wird
aller Verantwortung ledig. Er wurde ganz zu den Gerechten gezählt.
Was denkst du
nun, Barabbas, da der Sohn Gottes leiden mußte und du losgelassen wurdest?
Sicherlich bis du froh wie ein Pferd im Sommer und ein Vögelchen, das aus dem
Ei herausschlüpft. Der Teufel tadelte dagegen später, daß eine große
Ungerechtigkeit geschah, da ein Unschuldiger an Stelle des Schuldigen leiden
mußte. Die Juden tadelten aber niemanden, auch Pilatus nicht, der so ein Gefühl
hatte, daß Jesus unschuldig ist. Pilatus, dieser heidnische Richter, hat sich
über dem Räuber erbarmt und ihm alle Sünden vergeben. Er hat die Sünden und
Untaten des Räubers unter die Füße getreten, und alle Sünden des Barabbas warf
er in die Tiefen des Meeres, wie es der Prophet Micha im heutigen Text sagt.
Durch diese Lehre wird die Vernunft verletzt, und sogar die Selbstgerechtigkeit
sagt uns durch die Vernunft, daß hier eine große Ungerechtigkeit geschah. Es
ist überhaupt nicht einsichtig - weder nach dem irdischen noch nach dem
himmlischen Recht - daß der Unschuldige leiden mußte und der Schuldige
losgelassen wurde. Aber wir greifen nun nach den eigenen Worten der
Selbstgerechtigkeit. Denn obwohl die Selbstgerechtigkeit meint, daß hier eine
große Ungerechtigkeit geschah, so predigt sie doch dann und wann auch, daß da
keine Ungerechtigkeit vorhanden war, da Gott es hat geschehen lassen. Und wer
sind größere Diener der Selbstgerechtigkeit als die Juden? Aber die Juden haben
es nie als ungerecht betrachtet, daß ein Mörder freigelassen wurde und ein
Unschuldiger leiden mußte. Der Hohe Priester Kaiphas betrachtete es nicht als
unbillig, wenn er den Juden riet, daß einer für das Volk leiden mußte.
Es gibt aber noch
eine Stelle, wo die Selbstgerechtig uns irreführen kann. Die
Selbstgerechtigkeit sagt den Erweckten oft: “Dein Gewissen ist nie erweckt.
Wenn der Räuber und Mörder reumütig gewesen wäre, so könnte man die Begnadigung
des Barabbas rechtfertigen. Dieser Barabbas war aber nicht reumütig.” Warum
wird er denn freigelassen? Warum werden seine Sünden vergeben und in die Tiefe
des Meeres versenkt? Es handelt sich hier um eine große Ungerechtigkeit. Der
unbußfertige Räuber Barabbas wurde freigelassen und der reumütige Bandit
gekreuzigt. Wenn es gerecht ist, daß ein Räuber freigelassen wird, dann wäre es
gerecht gewesen, daß man alle Räuber freiließe. Hier kann man nur so antworten:
der reumütige Räuber wurde frei in seiner Seele, da er dieses Wort glaubte: “Heute
wirst du mit mir im Paradiese sein.” (Lk. 23, 43) Aber da einige wahrlich
Reumütige das glauben, was der Teufel der Selbstgerechtigkeit predigt und nicht
glauben, was der Gekreuzigte sagt, bleiben sie in den Eisenketten dieser
Auffassung gefangen. Sie werden nicht frei sein, bevor sie glauben, was der
Gekreuzigte verkündigt. Die Selbsgerechtigkeit spricht nämlich zu den
Reumütigen: “Du hast noch keine richtige Reue. Du mußt in einer noch größeren
Gewissensqual leben, bevor du dir die Gnadenversprechen zu eigen machen
darfst.” Ihnen muß man Barabbas zeigen. Denn ein jeder, der von Gott eine Menge
Qualen für sich verlangt, bevor er meint, glauben zu dürfen, der ist noch in
den Eisenketten der menschlichen Gerechtigkeit wie Barabbas gefangen und wird
sie nicht los, bevor der Richter ihn freiläßt.
Nun wollen wir
schauen, mit welchem Recht Pilatus den Gefangenen des Todes loslassen kann.
Wenn nämlich Pilatus dies darf, so hat auch der höchste Richter dasselbe Recht.
Woher hatte Pilatus das Recht, den Gefangenen des Todes freizulassen? Hatte
Gott oder der Teufel ihm dieses Recht gegeben? Wenn Gott ihm dieses Recht
gegeben hat, könnte die Selbstgerechtigkeit nachdrücklich widersprechen, da sie
daran festhält, daß nicht einmal Gott berechtigt ist, dem Gefangenen des Todes
die Freiheit zu geben. Wenn dieses Recht aber vom Teufel stammt, geht die
Selbstgerechtigkeit darauf ein und sagt: “Es ist doch richtig, daß Barabbas
freigelassen wurde.” Die Juden haben nicht widersprochen. Sie forderten
vielmehr, daß die Räuber und Mörder freigelassen werden sollten. Was die Schar
des Teufels vom irdischen Gericht verlangten, dies können die Christen vorm
himmlischen Gericht ebenfalls in Anspruch nehmen. Deshalb beten auch alle
Christen zum himmlischen Richter, daß sämtliche Gefangenen des Unglaubens
freigelassen werden. Und es ist unsere Hoffnung, daß der himmlische Richter
nach ihrem Wunsche handelt.
Barrabas, du
geistlicher Gefangener, du bist nun freigelassen. Jesus, der Unschuldige, der
fromme Sohn Gottes litt für dich. Derselbe Jesus ist gefangen, du bist frei.
Jesus wurde zum Tode wegen deiner bösen Tate verurteilt - du
bist frei von aller Verantwortung. Jesus ist der größte Sünder auf der Erde, du
bist unschuldig. Jesus wurde unter die Übeltäter gerechnet, du unter die Wohltäter.
Jesus ist ungerecht, du fromm. Jesus trat hinunten in die Hölle, du hast den
Weg frei und kannst in den Himmel treten. Wie ist es mit dir, Barrabas? Bist du
zufrieden mit diesem Urteil, oder willst du beim Gericht des Fürsten dieser
Welt Klage erheben, daß das Urteil verändert werde, indem man den Sohn Gottes
freiließe und dich wieder einsperrte? Ich nehme an, daß Barabbas nie mehr in
die Gefangenschaft geht, da man ihn einmal befreit hat. Ich glaube, daß
Barabbas froh wie ein Pferd im Sommer ist, und [glücklich] wie ein Vogel, der
der Falle entgeht. Aber wenn du, Barabbas, nochmal zu morden und zu rauben
beginnst, da du wieder in den Kerker geratest, wird es sicher nicht mehr so
leicht sein, die Eisenketten der Selbstgerechtigkeit loszuwerden. Danke nun
Barabbas, dem Richter, der dich von der Gefangenschaft der Sünde losließ.
Amen.